Leseprobe aus: ... in meinem dummen Herzen ...

An Dich, den ich seit fünf Jahren kenne

Okushima Keiko (58), Hausfrau, Ôsaka

Scharf bläst der erste kalte Wind dieses Winters. Bestimmt legst Du wie sonst auch ungeschützt vor dem Wind hinter Deinem Laden ganz allein und schweigend die Gemüse ein. Ich kann Deine vom kalten Wasser und Wind geröteten Hände vor mir sehen. Wie schön wäre es, wenn ich zu Dir kommen und Dir helfen könnte! Vor fünf Jahren haben wir uns kennengelernt. Wie oft haben wir uns seither gesehen?

An Deinem Geburtstag im Juli und an meinem im September laden wir uns gegenseitig »groß« zum Essen ein, trinken Tee und plaudern so richtig nach Herzenslust. Nur zu diesen beiden Anlässen treffen wir uns. Aber ich bin damit zufrieden, denn die Tage vergehen schnell, und der nächste Geburtstag kommt bestimmt!

Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, war Deine Frau gerade gestorben, und Dein Schmerz war noch nicht verheilt. Ich war bereits seit fünfzehn Jahren Witwe und hatte mich nur noch aufopferungsvoll um die Erziehung meiner beiden Kinder gekümmert. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Last auf meinen Schultern gerade etwas leichter, denn die Kinder beendeten die Schule, und ich konnte ein bißchen aufatmen. Gewiß würde Gott mir verzeihen, wenn ich mich in Dich verliebte. Aber Du sprachst von nichts anderem als von Deiner verstorbenen Frau, wenn wir zusammen essen gingen oder Tee tranken. Allerdings war ich zufrieden und glücklich, daß ich Dich überhaupt sehen durfte. Schon der Gedanke, mich zweimal im Jahr mit Dir zu treffen und zu unterhalten, macht mich überglücklich. Ich sehe diesen Tagen jedesmal ganz ungeduldig entgegen.

Ich nahm mir vor zu warten, bis Du mir eines Tages mehr Aufmerksamkeit schenken würdest. Heute, fünf Jahre später, sprichst Du, den Blick in die Ferne gerichtet, nur noch ab und zu von Deiner Frau. Es wird immer seltener. Ein klein wenig erfreut, betrachte ich das als ein Zeichen dafür, daß ich mir doch einen kleinen Platz in Deinem Herzen erobert habe. Darüber bin ich so froh. Ich will ja gar nicht Dein ganzes Herz einnehmen. Ich bin mit dem zufrieden, was ich jetzt habe.

Neulich sagtest Du einmal, daß wir, nachdem unsere Kinder eigene Familien gegründet hätten, für den Rest unseres Lebens zusammensein und uns helfen sollten. Was könnte ich mir Schöneres wünschen? Ich bin glücklich und freue mich auf den nächsten Juli.

Keiko



Brief an Dich

Wada Hiromi (14), Schülerin, Präfektur Mie

Das ist mein erster Brief an Dich, nicht wahr?

Wir sind uns irgendwie nah, oder? Trotzdem hab ich Dir noch nie geschrieben, keine Karte zu Neujahr und auch keine im Sommer. Da bin ich ja echt schneller bei Dir zu Haus als am Briefkasten. Also hab ich Dir auch nie geschrieben.
Wir sind irgendwie wie Geschwister aufgewachsen, was?
Ich bin ja ein Einzelkind, und ich hab Dich total gern. Zum Heulen gern. Du weißt ja, wie ich bin. Andere Jungs wie Muranaka oder Yamamiya aus der A-Klasse denken vielleicht sogar, ich wäre wie ein Junge, oder?
Aber ich tue nur so stark. Wenn Du meinen Namen rufst, möchte ich eine kleine Katze sein, echt!
Ich finde Deine Stimme total süß.
Du bist aber irgendwie zu allen nett, oder? Weißt Du noch damals in der fünften oder so, hatten wir eine Neue, Rina oder wie sie hieß. Gleich am ersten Tag hat jemand sie zum Weinen gebracht, und sie hat die Schule wieder gewechselt. Das war ich, ich gebe es jetzt zu. Du hast diese Rina dann total getröstet. Ich hab gesehen, wie Du und diese Rina mit ihren roten, verheulten Augen nach der Schule in der Bibliothek gestanden habt.
Bis dahin habe ich so was gar nicht bei Dir bemerkt, aber da sah ich, wie lieb Du bist. Und Du bist immer in meiner allernächsten Nähe gewesen!
Jetzt bin ich total sicher, daß ich Dich über alles und alles liebe.
Bestimmt hast Du nicht im Traum daran gedacht, daß mein erster Brief an Dich ein Liebesbrief ist, oder?
Ich bete, daß er schnell in Deinem Briefkasten landet.

P.S. Meine Mutter soll aber nichts von diesem Brief erfahren, o.k.? Sonst hält sie mich noch für frühreif oder so was


An Masao-chan, der jetzt eine Drachenlibelle ist

Ishii Akiko (57), Beamtin, Präfektur Fukushima

Lieber Masao-chan, Du bist jetzt eine Doro-Libelle geworden. Diese Vorstellung macht es mir etwas leichter. Als ich zu Obon nach Hause fuhr, gab es Euer Haus nicht mehr. Wo es gestanden hat, blühen heute nur noch Astern, umschwirrt von einer einzelnen Drachenlibelle.
Als die große Libelle mehrmals in der Luft stehen blieb und mich dann umkreiste, kamen mir wehmütige Erinnerungen an früher.
In jenen Tagen der Nachkriegszeit, die schon so weit zurückliegen, ging alles noch sehr ärmlich zu. Wir waren damals noch in der Grundschule. Ich erinnerte mich an eine ganz bestimmte Szene aus dieser Zeit.
Es war früh an einem Sommermorgen. Du kamst gerade über das Moor auf mich zugestapft. Als ich Dich ansprach, zeigtest Du verlegen auf Deine Brust und sagtest: »Man darf sie nicht anfassen. Wenn man sie anfaßt, stirbt sie oder kann nicht mehr fliegen.«
Du hieltest den Zweig eines Strauches an Deine Brust gedrückt, auf dem eine gerade geschlüpfte junge, dunkel schimmernde Drachenlibelle saß. Die noch etwas zerknitterten Flügel, die hellblauen großen Augen, der schwarz-gelb gestreifte Körper – alles war noch transparent und wie Gelee. Ich betrachtete sie mir, und die Schönheit und Frische dieses neuen Lebewesens, das noch am selben Tag fliegen lernen würde, nahmen mir den Atem.
Der Wind über den Reisfeldern, das Schrillen der Zikaden, das Rauschen des Baches, die grünen Bäume. Und mitten darin stand Masao-chan in einem zerrissenen Hemd, dekoriert mit dem Orden der Drachenlibelle.
Auch das gleißende Licht der aufgehenden Sonne werde ich nie vergessen.
Damals habe ich mit niemandem über dieses Erlebnis gesprochen. Alle hatten mit ihren eigenen Sorgen genug zu tun.
Du warst klein und mager und gingst nach der Mittelschule als »goldenes Ei« nach Tôkyô, aber ehe Du noch volljährig wurdest, bist Du schon ins Jenseits gereist. Vielleicht bist Du in Gestalt einer Drachenlibelle wieder in unsere Heimat zurückgekehrt. In dem Augenblick, als ich diesen Gedanken hatte, blickte ich zum Himmel und sah dort Dein Gesicht. Von Sehnsucht und Liebe überwältigt, vergaß ich mein Alter und schrieb diesen Brief. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, nicht wahr?

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