Über Kim Ch´un-su

Von W.S. Roske-Cho


1.

Kim Ch´un-su (geb. 1922), einer der prominentesten Dichter Südkoreas, hat sich vor allem als experimenteller Dichter profiliert. Seine Experimente gipfelten in den fünfziger Jahren in der ontologischen Lyrik, in der es um das Sein des Menschen und der Dinge geht, und in den sechziger Jahren in dem von ihm so bezeichneten, "bedeutungsfreien Gedicht", einer poésie pure seiner eigenen Prägung. Damit leistete er entscheidende Beiträge zur koreanischen Lyrik und wirkte über zwei Jahrzehnte hinweg ­ neben So Chong-ju und Kim Su-yong ­ als die einflußreichste Gestalt in der Lyrikszene des Landes.

Geboren in Ch´ungmu, einer Stadt an der Südküste Koreas, trat Kim Ch´un-su nach dem Schulbesuch in der Heimatstadt in die renommierte Mittlere Schule Kyonggi in Seoul ein. Diese verließ er jedoch kurz vor der Absolvierung aus Auflehnung gegen die militante Erziehungsmethode der damals im Lande herrschenden Kolonialmacht Japan. Anschließend begab er sich nach Tokyo, wo er durch eine zufällige Begegnung mit den Gedichten Rilkes die Lyrik zum erstenmal entdeckte und sich entschloß, selbst Dichter zu werden. An der Universität Nihon belegte er das Studienfach "Dichterische Praxis".
Aber das Studium konnte er nicht abschließen. Ihm erging es wie so manchen koreanischen Studenten in Japan. Der Anhängerschaft zur ­ "subversiven" ­ Unabhängigkeitsbewegung verdächtigt, wurde er aus heiterem Himmel verhaftet und für ein halbes Jahr unter denkbar harten Bedingungen verhört und festgehalten. Während dieser Zeit erlebte er einen Abgrund des Lebens. Er lernte Ungerechtigkeit und Gewalt kennen, spürte am eigenen Leib, was Hunger und Kälte bedeuten, und vielleicht das schlimmste: wie erniedrigend Folter ist. Von der Universität verwiesen, wurde er unter polizeilicher überwachung ins Elternhaus nach Korea zurückgeschickt, wo er nicht auf Verständnis hoffen konnte.
Das Trauma, das er von diesem Erlebnis davontrug, erklärt die für ihn charakteristische, tiefe Wendung nach innen, seine tiefe Verbindung mit der Natur sowie sein Bewußtsein, Opfer der Geschichte zu sein. Es bleibt zeitlebens seine Auffassung, daß die Geschichte das Böse und daß die heutige Zeit ein Zeitalter der Gewalt sei.

2.

1946, nachdem er sich körperlich und seelisch einigermaßen erholt hatte, begann seine dichterische Betätigung im nun befreiten Korea. Um diese Zeit herrschten in der Welt der koreanischen Lyrik auf der einen Seite die traditionelle Schule (vertreten durch So Chong-ju, Yu Ch´i-hwan und die Gruppe "Blaues Reh" der drei Dichter Pak Tu-jin, Cho Chi-hun und Pak Mog-wol) und auf der anderen Seite die modernistische Schule vor. Kim Ch´un-su fühlte sich von den Dichtern der traditionellen Schule stark angezogen, was sich in seinen frühen Werken deutlich ablesen läßt. Andererseits war er in den Anfängen seiner Lyrik den modernen westlichen Dichtern, insbesondere Verlaine und Rilke, verpflichtet. Von dieser Ausgangsposition auf einem prekären Berührungspunkt beider Richtungen aus wandte er sich schließlich doch dem experimentellen Kurs zu.

Die frühen Gedichte weisen verschiedene Ansätze auf. Dominant sind aber zarte, stimmungshafte Beschreibungen von Dingen und Landschaften. Sinnliche Bilder reihen sich an sinnliche Bilder. Die Gedichte stellen Gemälde aus Wörtern dar, wie die Beispiele Schmetterling, VOU, oder Ode an den Westwind zeigen. Dabei läßt Kim Ch´un-su seinen Sinnen keinen freien Lauf, die Bilder werden vom Intellekt filtriert und kontrolliert ­ ein Fest der vom Intellekt durchwalteten Sinne.
Mit der Zeit aber verändert sich diese Grundstimmung. Nicht mehr das schwerelos Atmosphärische, sondern gefühlsbeteiligte Naturerlebnisse treten in den Vordergrund.
Schon im Gedicht Abwesenheit begegnet einem das Gefühl der Vergänglichkeit, daß alles verfließe und sinnlos sei. Gleichzeitig häufen sich Bilder des Fließens in den Gedichten. Zudem verdichtet sich die gleich in den Anfängen angeklungene Stimmung einer untröstlichen Trauer. In Zusammenhang damit steht die auffällig häufige Verwendung von Worten wie "Traurigkeit", "weinen" und "Tränen". Auch in einem seiner heitersten Gedichte Ode an den Westwind fehlen "Tränen" und "Weinen" nicht. Ein Gedicht wird sogar "Die Tränen" überschrieben, und im Sumpf verbirgt jedes Wesen in der Natur eine "traurige" Geschichte in sich und weint heimlich. Es wundert nicht, wenn Kritiker ohne Kenntnis seiner autobiographischen Daten ­ diese wurden erst 1997 in dem autobiographischen Roman Blume und Fuchs (1997) näher dargelegt ­ ihm flache Sentimentalität ankreideten.
Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, daß es sich bei der Grundstimmung dieser frühen Werke um eine Traurigkeit besonderer Art handelt. Hier ist die Rede von "Trauerschichten", die "meine Großväter ... hinterlassen haben" (Der See). Und von den Tränen heißt es, daß sie "tausend, ja zehntausend Jahre" die Augen "der Großväter von den Großvätern der Urgroßväter" gefüllt haben. Hier wird gleichsam der Stammbaum der Tränen zurückverfolgt, bis in die vorgeschichtliche Zeit hinein.
Hinter dieser Wirklichkeitssicht verbirgt sich eine Kim Ch´un-su eigentümliche Betrachtungsweise, die man als einen Tiefenblick bezeichnen könnte. Er hat sein Erlebnis in Japan nicht als ein persönliches Mißgeschick abgetan, sondern ist mit seinem geistigen Blick in die Tiefe des kollektiven Bewußtseins seines Volkes vorgedrungen. Sein Leiden ist kein separates Leiden eines entwurzelten Individuums, sondern unzertrennlich verbunden mit dem Leiden aller seiner Vorfahren im Unglück. Erleichtert wird dadurch sein Schmerz keineswegs. Im Gegenteil, er wird unvergleichlich schwerer. "Mit zehntausend Tonnen Trauer beladen" ist sein Herz, wie es später im Gedicht über den Schnee von einem Kriegsschiff heißen wird. Aber Kim Ch´un-su ist entschlossen, diesen Schmerz auf sich zu nehmen.
Dieser Tiefenblick war es, der bei der Naturbetrachtung die verborgenen inneren Schichten der Einzelwesen aufgespürt hatte. Wo er eindringt, öffnen sich Naturphänomene und vertrauen ihm ihre traurigen Geschichten an. Durch tiefe gegenseitige Durchdringung von Mensch und Natur wird es möglich, daß die "äußeren" Ablagerungsschichten im See und die Tiefenschichten in der menschlichen Psyche eine Einheit bilden, und daß der Weiher die in seiner Tiefe verborgenen Geheimnisse des Lebens sichtbar werden läßt. Bezeichnend ist dabei, daß dieser Tiefenblick gerade bei Wasser so wirksam wird. Kim Ch´un-su hat eine ungewöhnlich enge Beziehung zum Element Wasser. Hier in den frühen Gedichten erscheint das Wasser nicht allein als der Ursprung des Lebens. Darin ist auch alles Vergangene aufgehoben, vielleicht ist darin das ganze Universum gegenwärtig. Und es ist mehr noch als das. Durch das Wasser führt sogar der Weg in die Ewigkeit, wie es in einem Gedicht heißt: "In dieser Stille habe ich Laute gehört, die in die Ewigkeit führen" (Der See I).
Dabei fällt es auf, daß der am Meer beheimatete Autor bei dem Thema Wasser in dieser Epoche nicht das Meer, sondern kleinere Binnengewässer wählt. Offenbar weil ihre "intimen" Tiefenschichten für Menschen weit näher und persönlich faßbarer sind als die des Meeres.
Der Tiefenblick und die durch ihn erschlossenen Tiefendimensionen in der Natur: Diesem völlig neuen Zug der Naturerfahrung in der koreanischen Lyrik ist bislang leider keine Aufmerksamkeit geschenkt worden. Doch ihm gebührt eine angemessene Würdigung, zumal der Tiefenblick keine zufällige oder vorübergehende Erscheinung ist, sondern bis in die späten Jahre hinein als ein verborgener geistiger Faktor bei der Entwicklung von Kim Ch´un-su bestimmend sein wird. Ferner wurde bislang jener Aspekt der Beziehung von Kim Ch´un-su zur Natur kaum beachtet, der sich im Gedicht Erdbeeren kundtut und ebenfalls neu in der koreanischen Lyrik ist. Hier führen die Dinge den Menschen in einen seltsamen Augenblick mystischer Einheit mit ihnen, ähnlich wie in Ein Brief oder Augenblicke in Griechenland von Hofmannsthal.

3.

In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, im Zuge der einströmenden Existenzphilosophie, empfängt die Lyrik von Kim Ch´un-su neue Impulse. Nun stehen zwei große Themenkreise im Mittelpunkt: politisches Engagement und metaphysische Fragen nach dem Sein und der dichterischen Sprache.
1953 widmet Kim Ch´un-su seinen vierten Gedichtband Die Nächsten (1953) den Fragen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Und in den darauffolgenden Jahren entstehen Gedichte des Engagements über den Schnee, Erzähle Ö, Heimkehr und Der Tod eines Mädchens in Budapest. In diesen Gedichten bekundet er seine Solidarität mit den Opfern von gewaltsam niederschlagenen Aufständen in Algerien (1954), in Budapest (1956) sowie mit den Opfern bei den Unruhen in Griechenland. Er zog darin Parallelen zwischen den Ereignissen, die sich fern von Korea zugetragen haben, und ihren innerkoreanischen Entsprechungen und machte deutlich, wie nahe jedem solche Geschehnisse gehen, über große geographische Entfernungen hinweg.
Daß dabei sein starkes Solitdaritätsgefühl auf seine persönliche Erfahrung gründet, liegt auf der Hand. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, daß im Gedicht Der Tod eines Mädchens in Budapest ursprünglich eine Passage enthalten war, in der sein Erlebnis in Tokyo geschildert wurde. Der schamhafte Dichter Kim Ch´un-su, von dem man sagt, er verberge mehr als er schreibe, und der sich peinlich davor hütet, seine eigenen Erlebnisse ohne vielfache Filtrierung und Verschlüsselung in seinen Gedichten zu behandeln, hat sehr bald nach der ersten Publikation des Gedichts die 26 Zeilen aus dem Gedichttext gestrichen. Ein weiteres Gedicht des Engagements Frisch wie Begonienblüten entsteht 1960, anläßlich des Studentenaufstandes vom 15.3. in Masan, der die große Studenten-Revolution vom April 1961 ausgelöst hat.
Im gleichen Jahrzehnt entstand parallel zu der engagierten Lyrik eine Reihe von Gedichten mit der Seinsthematik, die den Ruf von Kim Ch´un-su als Lyriker gefestigt und ihm allgemeine Beliebtheit eingetragen hat. Anders als in der engagierten Dichtung vermied er in diesen Gedichten die direkte Ausdrucksweise. Für den abstrakten Begriff "Sein" hat er die Metapher "Blume" bzw. "Blüte" geschaffen. Um diese ranken sich weitere Metaphern wie "Zweige", "blühen", "verwelken", "Farben", "Duft" etc. Da die Seinsfrage mit der Frage der dichterischen Sprache als "Haus des Seins" (Heidegger) untrennbar verbunden ist, hängt das ontologische mit dem poetologischen Gedicht eng zusammen.
Die Blume, das bekannteste Gedicht aus dem Blumen-Zyklus, weist inhaltlich ein vielschichtiges Gebilde auf. Es vereinigt mehrere Themen: die fundamentale Einsamkeit als das existenzphilosophische Verständnis der Grundsituation des Menschen; die auf deren Einsicht mögliche Solidarität und den dichterischen Akt des Nennens als Beschwörung, Magie, dichterische Schöpfung, vor allem aber als "worthafte Stiftung des Seins" (Heidegger). Doch wegen seiner Metaphorik der Blume, unterstützt durch die strenge Sprachökonomie ist dieses Gedicht, das einst in das Lesebuch für Schüler aufgenommen und bald in aller Munde war, bei vielen Lesern einfach als ein schönes Liebesgedicht beliebt ­ ein weiteres Indiz für seine Vielschichtigkeit.
Nicht im Sinne des Autors ist auch die gängige Interpretation des Wortes "Erinnerung" im Prolog zur Blume als Kindheitserinnerung. In diesem besonders schwer verständlichen Gedicht, in dem der Autor die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens mit Hilfe dichterischer Mittel durchzubrechen bemüht ist, geht es um Ideen im Sinne Platons. Kim Ch´un-su ist in dieser Epoche von einem "unermeßlichen Hunger und Durst nach den Ideen" ergriffen. Ihn verlangt, die Urbilder der Dinge zu erfassen. Dies jedoch vermag man nur aufgrund vorgeburtlicher Erinnerung ­ Anamnese. Daher wird das "Feuer der Erinnerung" entzündet. Aber dennoch können die Ideen nicht in der Sprache des Menschen eingefangen werden. So "weint" das lyrische Ich die Nacht hindurch, während die "Braut" ewig "verschleiert" bleibt. Aus sprachexperimenteller Sicht stellt sich die Entstehung dieser "platonic poetry" so dar:

Um diese Zeit erkannte ich, daß gewisse Ideen nur in Form von Gedichten gezeigt
werden können, und daß sich wieder andere jenseits der Sprache befinden. Angst
vor den Ideen erfaßte mich. Mich verlangte das kennenzulernen, was jenseits der
Sprache liegt. Vor diesem gefriert die Sprache. Wenn ich die unbrauchbar gewordenen
Wörter zerstörte, zerstoben ihre Bedeutungen zu Pulver. Und die Sprache weinte dort,
wo es nichts mehr gab.

Das weinende lyrische Ich und die ebenso weinende Sprache: Hier in den Blumen-Gedichten begegnet man unverhofft der Grundstimmung der Lyrik von Kim Ch´un-su aus der frühen Epoche wieder. Sie ist aber nicht die gleiche geblieben. In der spannungsgeladenen neuen Situation, in der das Subjekt nicht mehr passiv fühlend ist, sondern, von unstillbarer Sehnsucht getrieben, unaufhörlich den Versuch unternimmt, sich dem Sein zu nähern, und dabei von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, steigert sich die Traurigkeit ins Tragische, und aus dem still verhaltenen Weinen wird verzweifeltes Schluchzen.

Von dieser "tragischen" Lyrik ausgehend, läßt sich das Bild des tragischen Menschen begreifen, das in den Gedichten aus dieser Epoche in diversen Bildern zum Ausdruck kommt. Das Schilf, z.B., kennt einerseits den Flug in den Himmel, ist aber zugleich an die Erde fest genagelt, so daß es seinen "verzückten Flug" niemals bis ins Unendliche vollziehen kann. Die immer wiederholten Ansätze des Springbrunnens, hoch hinauf in den Himmel zu steigen, müssen jedesmal fehlschlagen und er stürzt ab. Und angesichts der fast grausam wirkenden Gleichgültigkeit des ersehnten Absoluten ­ man denke an die "Braut", die sich durch das unablässige Weinen des "ich" nicht zum Abnehmen ihres Schleiers bewegen läßt und die unpersönlich erhabene "Blüte", die keine Notiz nimmt von dem langen Weinen des lyrischen Ich an ihrem Ufer, und stets nur lächelt ­ bleibt der Schildkröte im Blumenbeet nichts anderes übrig als verzweifelt dem Himmel entgegen den Kopf zu schütteln und zu schluchzen.
Der enge thematische Zusammenhang zwischen diesen Gedichten und dem frühen Gedicht Abwesenheit ist unübersehbar. Ein Herz, das um die Vergänglichkeit aller Erscheinungen trauerte, sucht nun die überwindung derselben in der Ewigkeit. Daher richtet sich sein Tiefenblick, einst in die verborgenen Schichten der menschlichen Psyche und der Naturerscheinungen gerichtet, jetzt nach oben in den Himmel, in die Tiefenschichten des Ideellen ­ um schließlich doch nur eine fundamentalere Trauer hinzunehmen.
Aber die Welt dieser ontologischen Lyrik von Kim Ch´un-su ist nicht nur düster. So wie das Sakrale in den Religionen ist auch das Sein hier, die Blume, mit der Goldsymbolik ausgestattet. Bald wird die Blume als "tausend glänzende Augen aus purem Gold" angesprochen, bald ist von "glänzenden metallischen Klängen"die Rede (Der kahle Baum und die Lyrik III ). Wo sich diese Farbsymbolik auf andere Gedichte überträgt, entsteht beispielsweise das prächtige Bild der goldgefiederten Vögel im Wind, ein Bild, das, von vielen jüngeren Dichtern rezipiert, zu einem Topos geworden ist. Und im Tod wird ein erquickendes Farbenspiel beschworen ­ von Schwarz (der Tod) zu dem goldenen Baum (die Ewigkeit) und dazwischen die grüne Fläche des Lebens mit der Quelle in der Mitte.

4.

Gegen Ende der fünfziger Jahre wurde ein Kurswechsel notwendig. Kim Ch´un-su kam zu der Erkenntnis, daß er an die Grenzen seiner ontologischen Lyrik gestoßen ist. Er glaubte nicht mehr daran, daß die "Ideen" überhaupt als "Stütze für die Lyrik" tauglich wären und wandte sich von der "platonic poetry" ab. Aber auch die engagierte Lyrik bot ihm keine Alternative. Denn in der Zwischenzeit hatte sich sein Rivale, Kim Su-yong, zur führenden Gestalt des Lagers engagierter Dichtung emporgearbeitet.
Kim Ch´un-su entschied sich, die Gegenposition zu beziehen. Sein neues Programm lautete "eine ausgesprochen beschreibende Welt der Lyrik". Als Methode dafür wurde die "phänomenologische Betrachtungsweise" gewählt. Nach einer übergangsperiode. in der versucht wurde, den Rhythmus zum tragenden Pfeiler des Gedichts zu machen bei ansonsten absurden Gedichttexten (Nach der T´aryong-Weise), begann er mit dem "Training der Augen". Die Gegenstände sollen gesehen werden, ohne daß die Ideen ­ jetzt bedeutet die Idee so viel wie Bedeutung ­ sich einmischen. Aus diesem harten Training gehen Gedichte wie Blätter des Indong, Fliederblüten, Am Kai, Ein Granatapfelblüten-Mittag sowie Der Schnee, der in Chagalls Dorf fällt, hervor, ein beliebtes Gedicht, das in der sanften Atmosphäre des warmen, behaglichen, alles friedlich einhüllenden Schnees im März Visionen des nahenden Frühlings beherbergt.
Doch Kim Ch´un-su verweilte nicht sehr lange bei der rein beschreibenden Lyrik. Er schritt fort zu der "bedeutungsfreien" Lyrik und vollendete diese in zwei Etappen. In der ersten Etappe ging er wie Cézannes "von der Skizze zur Abstraktion" vor:

Wenn die Wahl des Gegenstandes, wie Häuser oder Bäume, getroffen wurde,
wird der Hintergrund links und rechts davon ausgewählt. Manchmal lasse ich
Teile des Gegenstandes weg, andere werden dagegen übertrieben. Auch werden
der Gegenstand und der Hintergrund ganz anders als in der realen Landschaft
arrangiert. So entsteht eine völlig andere Landschaft als die Basislandschaft.
Das bedeutet die Rekonstruktion der Landschaft bzw. des Gegenstandes. Während
dieses Prozesses mischen sich Logik und freie Assoziationen ein. Schärfen Logik
und Assoziationen ihre Wirkung noch weiter, wird die Form des Gegenstandes
zerstört, und schließlich verschwindet der Gegenstand selbst. Auf diese Weise
entsteht das bedeutungsfreie Gedicht.

Kim Ch´un-su spricht auch von seinem Willen, erst einmal die Wirklichkeit in ein Trümmerfeld zu verwandeln und dann einen Einblick in die Welt des Nichtseins zu ermöglichen. Nach diesen Äußerungen ist das bedeutungsfreie Gedicht der ersten Etappe ein abstraktes Gedicht, bei dem die "Bedeutung", d.h. die realen Sinnzusammenhänge, durch Abstraktionen zertrümmert, und dafür durch Montagen der Bilder neue abstrakte Gebilde geschaffen werden.
In der zweiten Etappe werden dann auch diese Bilder abstrakt gemacht, d.h. den Bildern wird von vornherein die Chance genommen, sich zu bilden. Wenn eine oder mehrere Zeilen zusammen den Eindruck erwecken, sich zu einem Bild zusammenzufügen, wird ihr Weg schonungslos abgeschnitten und in eine andere Bahn geleitet. Dieses Verfahren wird konsequent angewandt, bis die "unvollendeten Bilder einander blutige Kämpfe liefern, um ein Bild zu werden. Aber keinem gelingt es, zu überleben und sich zu vollenden".
Wo Bedeutungen und Bilder als konstitutive Kräfte nicht zur Verfügung stehen, stützt sich das Gedicht auf den Rhythmus. Kim Ch´un-su greift auf dieses im Zyklus Nach der T´aryong-Weise erprobte Prinzip zurück. Aber auch hier läßt er den Rhythmen keinen freien Lauf. Wenn sie zu einem "Bild" zu erstarren drohen, werden Sie jetzt durch eine Szene unterbrochen. Die so nur durch den Rhythmus zusammengehaltenen abstrakten Sprachgebilde ohne Bedeutung gleichen Zaubersprüchen, ja, sie wollen schlechthin bedeutungsfreie Formeln sein.
Um diese Zeit beginnt Kim Ch´un-su in seiner Poetik vom "Nichts" zu sprechen:

Weil die Wörter keine Bedeutung mehr haben, sind da Löcher entstanden. In letzter
Zeit bin ich bemüht, durch diese Löcher die Farbe des Nichts zu erblicken.

Dieses Nichts ist alles andere als ein negativer Begriff. Es heißt denn auch weiter: "Das Nichts ist für mich die Farbe des Ewigen." Möglicherweise kam der inzwischen Fünfzigjährige, der, vom starken Vergänglichkeitsgefühl ausgehend, noch in der Epoche der ontologischen Lyrik mit seinem menschlichen Geschick haderte, nun doch in Richtung auf das Ewige im Sinne des taoistisch-buddhistischen Nichts einen Schritt voran. So betrachtet, erinnert das radikale Streben in seiner Poetik der Bedeutungsfreiheit, sämtliche herkömmliche lyrische Komponenten zu zertrümmern, stark an die im Zen praktizierte Methode, das festgefahrene Denkgefüge zu durchbrechen, damit der Geist frei seine Funktion ausübt. Und wenn es in seiner Poetik weiter heißt: "Jetzt leide ich am Nichts. Ö ich möchte eintreten Ö, in den Zustand der überlieferung außerhalb der Lehre [=Zen]", dann drängt sich die Frage auf, ob Kim ch´un-su, während sein Bewußtsein in der vom Westen initiierten Tradition der poésie pure die Experimente fortführte, nicht unbewußt vom ostasiatischen Genius geleitet worden ist, der einst das Zen hervorgebracht hat. Jedenfalls weist Kim Ch´un-su darauf hin, daß die Farbe des Nichts, die er in seiner bedeutungsfreien Lyrik, insbesondere in den Ch´oyong-Fragmenten II, bezeugt hat, ihr Gegenstück im action painting findet, in "den lebendigen Schnitten, die auf den Bildern von Jackson Pollock durch kreuz und quer hingeworfene Pinselzüge entstanden sind."
Repräsentative Ergebnisse aus der ersten Etappe des bedeutungsfreien Gedichts sind die in Ch´oyong-Fragmente I zusammengestellten Gedichte. Aus der zweiten reifen die prägnanten rhythmisch ausgeprägten Formeln abstrakter Schönheit, Himmelsmelone, Tränen, Rhythmus I und II sowie der Zyklus Ch´oyong-Fragmente II heran.
Die Ch´oyong-Fragmente, eines der Hauptwerke von Kim Ch´un-su, sind als eine Art lyrischer Autobiographie konzipiert. Von seinem Selbstverständnis als Opfer der "Geschichte" ausgehend, hat er darin sein eigenes Bild mit dem von Ch´oyong überlagert, jener halb mythischen Figur aus der Geschichte Koreas, deren Name mit Gelassenheit verbunden werden kann, der das Leiden demütig hinnahm und überwand, und in dem Kim das Urbild des Opfers der Geschichte erblickt. Neben dieser geistigen Affinität verbindet darüber hinaus die gemeinsame "maritime" Herkunft den Sohn des Drachenkönigs Ch´oyong mit dem am Meer beheimateten Kim Ch´un-su.
Die Fragmente gliedern sich in vier Teile. Die ersten beiden Teile, die die Kindheit des Ch´oyong darstellen, entstehen relativ rasch nacheinander. Der erste, der schon 1969 in einer Zeitschrift zu erscheinen begann, lag 1974 abgeschlossen vor, zwei Jahre später der zweite. Teil III, in dem Ch´oyong, mit der Wirklichkeit der menschlichen Welt konfrontiert, "das Böse der Geschichte" erlebt, und der abschließende Teil IV, in dem der Schluß, der Weltauffassung des Autors entsprechend, offen bleibt, erschienen dagegen erst anderthalb Jahrzehnte später (1990-1991).
In den ersten beiden Teilen wird der noch undifferenzierte Bewußtseinszustand bzw. das Leben in der Tiefe des Meeres beschrieben. Der Tiefenblick von Kim Ch´un-su richtet sich abermals nach unten in die Tiefe, diesmal jedoch nicht in die Tiefendimensionen der Natur, sondern durch die Schichten der Kindheitserinnerung hindurch in die Tiefe des mythischen Meeres. So entstehen die surrealistisch anmutenden, faszinierenden Bilder der Fragmente I. Derselbe Tiefenblick fördert in Changhwas Worte an Hongnyon und Qualle Bilder aus den Tiefenschichten der Psyche an den Tag, die an die Gemälde von Salvador Dali oder Yves Tanguy erinnern. Dies ist nicht zufällig, denn Kim Ch´un-su zieht durchaus die surrealistische Methode der Aufzeichnung spontan ablaufender psychischer Inhalte (Automatismus) heran, die dann von seinem Bewußtsein ("Logik") streng kontrolliert werden.

5.

Auf die Epoche der höchsten geistigen Spannung mußte eine Phase der Entspannung folgen. Zu den ersten Produkten dieser Phase gehören Zwei Blütenblätter. Auch in Ch´oyong-Fragmente III wird bewußt auf verschlüsselnde Techniken verzichtet. Ohne Anstrengung lassen sich die Gedichte des Bandes Romanische Impressionen und andere Gedichte lesen. Bei der Lektüre der Werke Toledo ­ eine Ansicht, Die Sprache, Hunderttagerot in San Diego, Das Landnahmespiel oder Abendrot kann man sich mit dem Dichter schmunzelnd entspannen.
Jedoch Kim Ch´un-su macht es einem auf Dauer nicht so leicht. In den letzten Gedichtbänden, insbesondere in Besessenheit, Dostojewski (1997) legt er experimentelle Gedichte anderer Art vor. Er scheint nun die Schranken von Zeit und Raum, Leben und Tod sowie Gut und Böse abschaffen zu wollen, und dies bei seiner reinen Diesseitigkeit. Es ist abzuwarten, wohin sein Weg führen wird.



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