Totempfähle in der amerikanischen Literaturlandschaft -
Über Paul Metcalf

von Anke Schomecker


Im November 1997 wurde der amerikanische Schriftsteller Paul Metcalf 80 Jahre alt, vom hiesigen Literaturmarkt und seinen Vertretern völlig unbemerkt. Das ist zunächst nicht weiter verwunderlich, denn auch in Amerika selbst ist dieser Mann ein vergleichsweise Unbekannter, dessen Bücher in den Suchlisten der Buchhandelsdienstleister als »schwer zu bekommen, vergriffen, nicht erhältlich« geführt werden.

Erst zu seinem diesjährigen Geburtstag bringt ein kleinerer amerikanischer Verlag eine Werksammlung heraus, die aus drei dicken Bänden besteht. Der erste Band, erschienen im November 1996, umfaßt die Produktionen aus den Jahren 1956 bis 1976, der zweite die Zeit von 1976 bis 1986 und der dritte Band, der seit Ende 1997 vorliegt, Essays, Kritiken und die literarischen Arbeiten von 1986 bis heute.

Doch wer die Bücher aufschlägt und sich auf das »Abenteuer« einläßt, in den Texten zu lesen, ist spätestens zu diesem Zeitpunkt überrascht, von Paul Metcalf noch nie gehört zu haben: Der Leser sieht sich faszinierenden Sprachgebilden gegenüber. Zunächst geht es erzähltechnisch noch verhältnismäßig konventionell zu:

Im Erstlingswerk Will West, das seit kurzem in deutscher Sprache vorliegt und streng genommen nicht das allererste Werk, sondern nach Auskunft des Autors aus guten Gründen nur das früheste erhaltene ist, wird die Geschichte eines Indianers erzählt, der im Osten der USA für einen Verein Baseball (das Lieblingsspiel der modernen amerikanischen Literatur) spielt. Mit welchen Empfindungen er den auszuführenden, entscheidenden Ballwurf selbst erlebt, wie tief der Erzähler Metcalf bereits in der ersten Szene in die körperlichen und geistigen Wahrnehmungen seines Protagonisten eindringt, läßt schon aufmerken. Im Laufe der Erzählung wird das Spektrum gestalterischer Mittel noch breiter; freie Versformen, indianische Mythen und Texte aus alten Chroniken werden verwendet, um Will, der eine Frau tötet und sich auf die Flucht nach Westen begibt, zu begleiten und parallel zu seinem Weg mit dem Leser eine Reise durch die Geschichte des amerikanischen Kontinents anzutret

Die in Will West in Ansätzen vorliegenden Verfahrensweisen entwickelt Metcalf unbeeindruckt von literarischen Strömungen in seinen folgenden Arbeiten weiter. Große Teile derselben sind aus vorgefundenem literarischen und dokumentarischen Quellen zusammengefügt und mit eigenen Textteilen kombiniert. In den besten Werken gelingt es dem Autor dabei, eine überzeugende, aussagekräftige Einheit auf höherer Ebene zu schaffen. So in seinem zweiten, wesentlich umfangreicheren Buch Genua, das gleichzeitig die Auseinandersetzung des Urenkels mit Werk und Leben seines Vorfahren Herman Melville ist, daneben die Beziehung zweier Brüder beleuchtet und Fahrten und Lebensweg von Christoph Kolumbus zu beidem in Beziehung setzt.

Metcalf selbst sagt in einem Interview, daß ihn vor allem amerikanische Themen interessieren. In den Texten des ersten Sammelbandes spielt die geschichtliche Herkunft dieses Amerika - Kolonialisierung, Auswanderung, Industrialisierung - eine ebenso wichtige Rolle. Ein Werk wie The Middle Passage schlägt einen Bogen von den Ludditen-Aufständen gegen die fortschreitende Automatisierung der Webereien im England des 19. Jahrhunderts über Sklaventransporte von Afrika nach Amerika bis zu Henry Ford und ist neben dem großen sprachlichen Reiz auch thematisch weit über Amerika hinausgreifend. Selbst wenn ein Text, wie etwa Zip Odes, keine Erzählung mit Figuren, Orten, Zeiten und Handlung mehr ist, sondern nur aus den »ZIP-codes«, den Angaben in den Postleitzahlbüchern der USA, montiert ist, bereiten die Idee und die sprachspielerische Umsetzung ein besonderes Lesevergnügen.

Innerhalb der Literatur des amerikanischen Kontinents sieht Metcalf sich durchaus in Verbindung mit bekannten Traditionen, er nennt Charles Olson, mit dem ihn auch über den Bezug zu Herman Melville eine intensivere persönliche Bekanntschaft verband, Hart Crane und William Carlos Williams, aber auch Musiker wie Charles Ives als Einflußquelle für sein Schaffen. Die Bildsprache seiner Texte wie die Art der Beschreibung intensiver Sinneseindrücke und körperlicher Empfindungen des Einzelnen unterstreichen das, zeigen aber gleichzeitig sienen höchst individuellen Umgang mit jeglicher Tradition.

Aus dem deutschen Sprachraum erinnern einige seiner Texte an Kompositionstechniken, die aus dem Werk Arno Schmidts bekannt sind. (Neben anderen Zufälligkeiten, wie gleichem Geburtsjahr und spätem Beginn der Schriftstellertätigkeit, hat sich auch Metcalf in einem eigenen literarischen Werk - Both - mit Edgar Allan Poe befaßt.) Die typographische Verknüpfung verschiedener Textbestandteile fällt bei ihm ebenso ins Auge wie bei Schmidt, und das Spiel mit Lauten und Bedeutungsvarianten taucht häufig auf, auch wenn Metcalf daraus keine Theorie entwickelt und seine Verfahrensweisen nicht erläutert.

Er hat in dem »selbst-kritischen« Essay Totem Paul: A Self-Review sein schriftstellerisches Werk mit einem indianischen Totempfahl verglichen, der von einer Gruppe spezialisierter Handwerker geschaffen wurde, um historisch genau die Geschichte eines Stammes zu erzählen. »Aus diesem Grund - weil sie [die Schnitzer] nicht bewußt versuchten, Schönheit zu schaffen - sind viele der Totempfähle so außerordentlich schön. [...] Man kann sie auf einen Blick erfassen, oder sie wie ein Buch lesen mit ineinander übergehenden Kapiteln, von oben nach unten oder von unten nach oben.«

In der Tat verfolgt Metcalf in seinen verschiedenen Quellen und mit Hilfe ihrer Verarbeitung amerikanische Geschichte wie auf der senkrechten Achse eines Koordinatenkreuzes in die Tiefe der Vergangenheit und bewegt sich gleichzeitig in waagerechter Richtung durch den Raum dieses Kontinents. Seine Figuren sind dabei immer auf der Suche nach einem Standplatz auf einem Kreuzungspunkt, der ihnen Sinn und Perspektive vermittelt. Doch gegenüber der Gewalt von Zeit und Raum wirken sie oft klein und verloren. »Am Ende werden wir der Welt keinen Nutzen bringen und obwohl wir vielleicht herausfinden was wir gewesen sind und möglicherweise sogar was wir sind werden wir doch bei all unserer Suche diesem schweren hilflosen Stolpern von auf Treibsand geborenen Menschen nie wissen was wir getan haben.« (Will West)

Dem Schicksal der Verlorenheit zwischen all seinen schon bekannten und übersetzten Zeitgenossen dieses Jahrhunderts aus der riesigen amerikanischen Literaturlandschaft wird der Schriftsteller Paul Metcalf dank der Werkausgabe zu seinem Geburtstag hoffentlich entgehen, denn seine Bücher haben zweifellos eine größere Bekanntheit verdient - und ihr Autor einen Platz in den Literaturgeschichten.

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