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Leseprobe aus: Siegfried Schaarschmidt »Eine Sandburg mein Gedicht« – Moderne japanische Lyrik

Nishiwaki Junzaburô (1894-1982)

Im Juni 1926 druckte die »Mita Bungaku« (»Mita-Literatur«), die mit zweitausend Exemplaren relativ auflagenstarke Zeitschrift der in Tôkyô-Mita gelegenen privaten Keiô-Universität, einen Zyklus französisch abgefaßter Gedichte. Es war die Zeit, in der sich das jüngste Japan mit allerlei Dada und Futurismus in Avantgardeheften wie »MAVO« oder »GE-GIMGIGAM-PRRR-GIMGEM« austobte; aber diese »Mita«-Lyrik war darüber hinaus so von Witz und Weitläufigkeit, von der spielerischen Eleganz und Paradoxie des esprit nouveau erfüllt, daß es schwerfiel, an die Autorschaft eines Japaners zu glauben.

Die Keiô-Studenten, besonders der anglistischen Abteilung, wußten es natürlich: dieser Nishiwaki Junzaburô, der »Dandy mit weichem schwarzem Filzhut und dem Zwicker auf der Nase«, war seit dem Frühjahr ihr Literaturprofessor, und er war, einem engeren Kreis unter ihnen, der Theoretiker und praktizierende Lyriker, der sie mitnahm in das Labyrinth des von André Breton ausgerufenen Surrealismus.

In der folgenden, der Juli-Nummer 1926 der »Mita Bungaku«, veröffentlichte Nishiwaki – unsicher zunächst, ob das überhaupt möglich sei – jenen französischen nachgestaltete japanische Versionen seiner Gedichte.

Der Rauch des Bergwerks sieht aus wie von einem Vulkan
Überm Wildbach, unter der Klippe auf der die Lilien blühen
hat der Barbier sein Atelier eröffnet
Am Fußboden
häuft sich aus Arbeiterbart und Lilienpollen
ein vielschichtiges Gemisch
Unter dem Porträt der Schauspielerin auf dem Bierplakat
zwischen Zeitungspapier und Bambusflöte lächelt
dieser Künstler wie der Gott des Beriberi

Ende 1927 bereits brachten sechs seiner Schüler die erste Anthologie japanischer surrealistischer Lyrik heraus. Das Titelgedicht »Ah, ihr duftreichen Heizer!« war Nishiwakis Beitrag. Nishiwaki hatte ursprünglich westliche Malerei studieren wollen. Als Siebzehnjähriger war er, Sproß einer Bankiers-Familie in Nordjapan, nach Tokyo gekommen; doch der Akademiebetrieb stieß ihn ab, und er wechselte in die Nationalökonomie an der Keiô-Universität, entwickelte eine Leidenschaft für Sprachen: englische und französische Literatur las er im Original, die Abschlußarbeit 1916 (»Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft«) schrieb er lateinisch. Die danach begonnene Journalistenkarriere (bei der »Japan Times«) mußte er, einer Lungenkrankheit wegen, bald wieder abbrechen. 1919 bot man dem Rekonvaleszenten eine Stellung im Auswärtigen Amt an, im Jahr darauf erhielt er zusätzlich einen Lehrauftrag für Englisch an seiner Alma mater, und die Keiô-Universität war es auch, die ihn schließlich zum Nachstudium des Alt- und Mittelenglischen nach Oxford schickte.

Im London des Jahres 1922 feierte man T. S. Eliots »Waste Land«, las den noch verbotenen, aus Paris eingeschmuggelten »Ulysses« des James Joyce; der unruhige Ezra Pound zwar war schon wieder auf und davon, aber seine (zu einem guten Teil aus Ernest Fenellosas ostasiatischem Nachlaß geschöpften) Konzepte wirkten fort: in Hilda Doolittles imagistischen Gedichten, bei den Sitwells, bei W. B. Yeats oder bei Herbert Read. Jedenfalls verfiel der im August jenes Jahres hier eintreffende Nishiwaki dieser Atmosphäre so sehr, daß er den nächsten Termin in Oxford versäumte; und bis er im Herbst 1923 dort das »New College« bezog, hatte er längst Anschluß an die »Szene« gefunden, so über den Poetry Bookshop, den, Virginia Woolf benachbart, Harold E. Munro in Bloomsbury betrieb. Die Studien selber wurden von Reisen bis nach Ägypten, nach Italien und Frankreich oder ins nahe Schottland unterbrochen. 1924 publizierte er sein erstes »avantgardistisches« Gedicht; es stand, ein englisches, in derselben 39. Nummer von Munros »Chapbook«, die auch Eliots »The Hollow Men« in der Urfassung enthielt. Im August 1925 erschien, ebenfalls in der fremden Sprache, bei der Cayme Press ein erster Lyrikband des jungen Japaners unter dem Titel »Spectrum«. Zwei Monate später lief das Schiff aus, das ihn zurück in die Heimat brachte.